Selbst-DENKEN
Paul Feyerabend: Das Märchen von der wissenschaftlichen Methode
Paul Feyerabend war zunächst Anhänger des Kritischen Rationalismus Kari R. Poppers, bevor er Ende der 60-er Jahre zu dessen schärfstem Kritiker wurde- in seinem Hauptwerk „Wider den Methodenzwang“ (1975) vertritt er eine „anarchistische Erkenntnistheorie“, die sich entschieden gegen jede Art von Dogmen in der Wissenschaft, insbesondere gegen die Behauptung einer universalen wissenschaftlichen Methode wendet. Stattdessen fordert _ Feyerabend einen Pluralismus von Methoden und Theorien, wobei er neben wissenschaftlichen auch als nicht-wissenschaftlich geltende 'Praktiken wie die Astrologie oder das Heilen durch Handauflegen als zulässig betrachtet. in seiner Schrift „Erkenntnis für freie Menschen“ (1979) hat er aus seiner anarchistischen Erkenntnistheorie auch politische Konsequenzen gezogen und vor allem die demokratische Mitbestimmung gegen die Herrschaft von Experten und Eliten verteidigt. Paul Feyerabend wurde am 13. Januar 1924 in Wien geboren. Er studierte Mathematik, Physik, Philosophie und Theaterwissenschaften in Wien, Weimar und London und lehrte seit 1958 als Professor der Philosophie an verschiedenen Universitäten in den USA, in Deutschland, der Schweiz und in Italien. Er starb am ii. Februar 1994 'in Genf. n dem folgenden Auszug aus dem letzten, achtzehnten Kapitel von „Wider den Methodenzwang“ versucht Feyerabend die Auffassung, dass Wissenschaft durch bestimmte Methoden gekennzeichnet ist, als Märchen zu entlarven.
Das Bild der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts in den Augen der Wissenschaftler und Laien ist bestimmt durch technische Wunder wie das Farbfernsehen, die Mondflüge, den lnfrarotgrill sowie durch ein ziemlich vages, aber noch immer recht einflussreiches Gerücht oder Märchen über die Art, wie diese Wunder zustande kommen. Nach diesem Märchen entsteht der Erfolg der Wissenschaft aus einer subtil ausbalancierten Verbindung von Erfindergeist und Kontrolle. Die Wissenschaftler haben Ideen. Und sie haben spezielle Methoden für die Verbesserung von Ideen. Die wissenschaftlichen Theorien haben die methodische Prüfung bestanden. Sie liefern eine bessere- Darstellung der Welt als Ideen, die diese Prüfung nicht bestanden haben. ' Das Märchen erklärt, warum die moderne Gesellschaft die Wissenschaft auf besondere Weise behandelt und ihr Vorrechte einräumt, derer sich andere Institutionen nicht erfreuen. [...] _ Doch das Märchen ist, wie wir sahen, falsch. Es gibt keine spezielle Methode, die den Erfolg gewährleistet oder wahrscheinlich macht. Die Wissenschaftler lösen Probleme nicht deshalb, weil sie eine Wünschelrute besäßen - die Methodologie oder eine Theorie der Rationalität-, sondern weil sie sich mit einem Problem lange Zeit beschäftigt haben, weil sie die Verhältnisse ziemlich gut kennen, weil sie nicht gerade dumm sind. [...] Kein Wissenschaftler wird zugeben, dass Abstimmungen auf seinem Fachgebiet eine Rolle spielten. Tatsachen, Logik und Methodologie entscheiden allein ~ das erzählt uns das Märchen. Doch wie entscheiden die Tatsachen? Welche Funktion haben sie beim Erkenntnisfortschritt? Man kann Theorien nicht aus ihnen ableiten. [...] Tatsachen allein sind nicht stark genug, um zur Annahme oder Ablehnung wissenschaftlicher Theorien zu veranlassen, sie lassen dem Denken einen zu weiten Spielraum; Logik und Methodologie andererseits scheiden zu viel aus, sie sind zu eng. Zwischen diesen beiden Extremen liegt das sich immerfort wandelnde Reich der menschlichen Ideen und Wünsche. Und eine genaue Analyse erfolgreicher Schritte im Wissenschaftsspiel (››erfolgreich« vom Standpunkt der Wissenschaft selbst aus) zeigt in der Tat, dass es einen weiten Freiheitsspielraum gibt, der eine Vielfalt der Ideen verlangt und die Anwendung demokratischer Verfahren (Diskussion und Abstimmung) gestattet, der aber durch Machtpolitik und Propaganda versperrt ist. Hier gewinnt das Märchen von den speziellen Methoden seine entscheidende Funktion. Es verdeckt den Entscheidungsspielraum, den schöpferische Wissenschaftler und die Öffentlichkeit auch innerhalb der strengsten und fortgeschrittensten Teile der Wissenschaft haben, durch die Rede von »objektiven« Kriterien und schützt so die großen Tiere (Nobelpreisträger, lnstitutchefs, Spitzen von Berufsverbänden, führende Vertreter bestimmter Schulen, ››Erzieher« usw.) vor den Massen (Laien, Fachleute auf nichtwissenschaftlichen Gebieten, Wissenschaftler anderer Fachgebiete). [---] ist es nicht eine Tatsache, dass ein ausgebildeter Arzt besser befähigt ist, eine Krankheit zu erkennen und zu heilen als ein Laie oder ein Medizinmann aus einer primitiven Gesellschaft? lst es nicht eine Tatsache, dass Epidemien und gefährliche Einzelerkrankungen erst mit dem Auftreten der modernen Medizin verschwunden sind? Muss man nicht zugeben, dass die Technik seit dem Aufstieg der modernen Wissenschaft ungeheure Fortschritte gemacht hat? Und sind nicht die Mondflüge ein eindrucksvoller und unbestreitbarer Beweis für ihre Qualitäten? Das sind einige der Fragen, die dem unverschämten Kerl an den Kopf geworfen werden, der es wagt, die Sonderstellung der Wissenschaften zu kritisieren. Die Fragen erreichen ihren polemischen Zweck nur, wenn man annimmt, die Ergebnisse der Wissenschaft, die niemand bestreitet, seien ohne jede Mitwirkung außerwissenschaftlicher Faktoren entstanden und könnten auch durch solche nicht verbessert werden, und wenn man weiterhin annimmt, dass sie allein den Mantel des Erfolges tragen. »Unwissenschaftliche« Verfahren wie die Kräuterkunde von Hexen und weisen Männern, die Astronomie der Mystiker, die Krankenbehandlung in primitiven Gesellschaften sind völlig wertlos. Allein die Wissenschaft liefert eine brauchbare Astronomie, eine wirksame Heilkunde, eine zuverlässige Technik. Man muss ferner voraussetzen, die Wissenschaft verdanke ihren Erfolg der richtigen Methode und nicht bloß dem glücklichen Zufall; nicht eine gute kosmologische Idee habe zum Fortschritt geführt, sondern die richtige und kosmologisch neutrale Behandlung von Daten. Diese Voraussetzungen sind notwendig, um den Fragen die beabsichtigte polemische Spitze zu verleihen. Und keine von ihnen hält einer genaueren Prüfung stand. Die moderne Astronomie begann mit dem Versuch des Kopernikus, die alten Ideen von Philolaos den Bedürfnissen der astronomischen Voraussagen anzupassen. Philolaos war kein exakter Wissenschaftler, sondern ein pythagoreischer Wirrkopf, und die Konsequenzen seiner Lehre wurden von einem Fachastronomen wie Ptolemäus »unglaublich lächerlich« genannt. Selbst Galilei, der die wesentlich verbesserte Kopernikanische Fassung von Philolaos vor sich hatte, sagt: »Mein Erstaunen kennt keine Grenzen, wenn ich daran denke, dass Aristarch und Kopernikus im Stande waren, die Vernunft so über die Sinne zu steilen, sie, im Widerspruch zu diesen, zur Beherrscherin ihrer Auffassung wurde.« ››Sinne« meint hier die Erfahrungen, die Aristoteles und andere zum Beweis dafür herangezogen hatten, dass die Erde ruhen müsse. Die ››Vernunft«, die Kopernikus ihren Argumenten entgegensetzt, ist die höchst mystische Vernunft des Philolaos in Verbindung mit einem ebenso mystischen Glauben (››mystisch« vom Standpunkt der heutigen Rationalisten aus) an den fundamentalen Charakter der Kreisbewegung. ich habe gezeigt, dass die moderne Astronomie und die moderne Dynamik nicht ohne diese unwissenschaftliche Verwendung vorsintflutlicher Ideen vorangekommen wären. Die Astronomie zog Nutzen aus dem Pythagoreismus und der Platonischen Vorliebe für Kreise, die Medizin aus der Kräuterkunde, der Psychologie, der Metaphysik, der Physiologie von Hexen, Hebammen, weisen Männern, Wanderapothekern. Es ist bekannt, dass die Medizin des 16. und 17. Jahrhunderts theoretisch aufgebläht war, aber der Krankheit gegenüber völlig hilflos (was sie noch lange nach der »wissenschaftlichen Revolution« blieb). Neuerer wie Paracelsus verbesserten die Medizin durch Rückgriff auf ältere Ideen. Überall wird die Wissenschaft durch unwissenschaftliche Methoden und Ergebnisse bereichert, während Verfahren, die oft als wesentliche Bestandteile der Wissenschaft gelten, stillschweigend außer Kraft gesetzt oder umgangen werden. [....] › Verbindet man diese Feststellung mit der Erkenntnis, dass die Wissenschaft keine besondere Methode besitzt, so ergibt sich, dass die Trennung von Wissenschaft und Nichtwissenschaft nicht nur künstlich, sondern auch dem Erkenntnisfortschritt völlig abträglich ist. Wenn wir die Natur verstehen und unsere materielle Umgebung beherrschen wollen, dann müssen wir alle Ideen, alle Methoden verwenden, nicht nur einen kleinen Ausschnitt aus ihnen. Die Behauptung aber, außerhalb der Wissenschaft gebe es keine Erkenntnis - extra scientiam nulla salus - ist nichts als ein weiteres und höchst bequemes Märchen. [...] Und wie oft geschieht es doch, dass das stolze und dünkelhafte Urteil eines Fachmanns von einem Laien zurechtgewiesen wird! Zahlreiche Erfinder bauten angeblich ››unmögliche« Maschinen. Rechtsanwälte zeigen immer wieder, dass ein Sachverständiger nicht weiß, worüber er redet. Wissenschaftler, vor allem Ärzte, gelangen oft zu verschiedenen Ergebnissen, so dass die Verwandten des Kranken (oder die Einwohner eines bestimmten Gebiets) durch Abstimmung entscheiden müssen, was geschehen soll. Wie oft wird die Wissenschaft durch außerwissenschaftliche Einflüsse verbessert und in neue Bahnen geienkti Wir, die Bürger einer freien Gesellschaft, müssen entscheiden, ob wir den Chauvinismus der Wissenschaft widerspruchslos hinnehmen oder durch öffentliches Handeln überwinden wollen. Öffentliches Handeln wurde von den Kommunisten in China in den 50er Jahren gegen die Wissenschaft eingesetzt, ebenso unter ganz anderen Umständen von einigen Gegnern der Entwicklungstheorie in Kalifornien in den 70er Jahren. Folgen wir ihrem Beispiel und befreien wir die Gesellschaft aus dem Würgegriff einer ideologisch erstarrten Wissenschaft, genau wie unsere Vorfahren uns aus dem Würgegriff der »einen wahren Religion« befreit haben!
Weiteres folgt
aus: Logik. Ein Sachcomic.
Dan Crynian, Sharron Shatil und Bill Mayblin